Das Beispiel Maria Blumencron…

Spannend, ergreifend, mutig: "Kein Pfad führt zurück"

Kein Pfad führt zurück – Aufbruch in ein neues Leben
Was kann geschehen, wenn eine westliche Dokumentarfilmerin im Himalaya auf 5300 Metern sechs kleinen Kindern auf ihrer Flucht aus Tibet begegnet?
Ein Film … Und in weiterer Folge eine ungewöhnliche Familie. Elf Jahre nach ihrer schicksalhaften Begegnung im tibetisch-nepalesischen Hochgebirge schildern Maria Blumencron und ihre tibetische Patentochter Chime Yangzom in ihrer multimedialen Lesung, was nach der lebensgefährlichen Flucht der dieser Kinder geschah …
Wege entstehen, wenn wir sie gehen – erzählt von Maria Blumencron und Chime  Yangzom.

Spannend, ergreifend, mutig: “Kein Pfad führt zurück”

,Als der Weg immer weiter und das Essen immer weniger wurde, begann ich nachts seltsame Dinge zu sehen, und die Berge verwandelten sich. Manchmal sahen sie aus wie riesige Portionen von Eiscreme. Und manchmal schienen es große Gebäude zu sein, in denen Hunderte von Kindern herumliefen und spielten. Und irgendwann begannen die Berge zu sprechen. Sie sprachen mit der Stimme meiner Mutter zu mir. Ich hörte sie eine Einkaufsliste diktieren für unseren Gang zum Markt. Ich hörte sie im Gespräch mit den Nachbarn. Sie fragte mich chinesische Vokabel ab für die Schule. Je weiter wir uns von Tibet entfernten, desto näher war die Stimme meiner Mutter am Ohr …(Chime, im März 2011)
Chime war neun Jahre alt, als sie Tibet im März 2000 verließ. Damas musste sie alles zurück lassen. Ihre Eltern, ihre Freunde, ihre Spielsachen, ihre Haustiere. Ihre Mutter erteilte Chime den Auftrag, die kleine Schwester Dolkar bei ihrer Flucht über den Himalaya zu begleiten – auf dem weiten Weg von Lhasa bis nach Dharamsala zu den Schulen des Dalai Lama.
Seit ihrem Abschied aus Tibet haben Chime und Dolkar ihre Mutter nie mehr wiedergesehen. Die beiden Schwestern haben alles verloren. Und auf wunderbare Weise noch während ihrer dramatischen Flucht über den Himalaya eine neue Familie gefunden. Denn in ihrer Gruppe waren noch vier weitere Kinder …
»Siehst du die Sterne?«, flüsterte Dhondup an meiner Seite und deutete hinauf in den Himmel. Er sah aus wie ein großer, aufgespannter Sternenschirm. Er war nicht nur über uns, sondern hüllte uns ringsum ein!
»Das sind unsere Mütter«, sagte ich zu ihm: »Sie schauen auf uns Kinder herunter und geben acht, dass uns nichts passiert.«
Da begannen Dhondups Augen wie die Sterne zu leuchten. Und er beschwor er uns für immer zusammen zu bleiben:»Von heute an sind wir Geschwister.«
Und während die Sternschnuppen vom Himmel herabfielen, versprachen wir einander, nie mehr auseinander zu gehen … (Chime, im März 2011)
Die Kinder haben ihr Versprechen gehalten. Heute, elf Jahre später, sind sie immer noch unzertrennlich. Sie fühlen sich wie Geschwister. Und laufen sie gemeinsam durch Dharamsala, der größten Tibetischen Exilgemeinde, rufen die Leute: ,Seht Mal, da kommen ,die Sechs‘!‘
,Die Sechs‘, das sind Chime, Dolkar, Pema, Dhondup, Lakhpa und Tamding.
Seit elf Jahren begleite und dokumentiere ich ihre Kindheit und Jugend in Bildern, Filmen und dem geschriebenen Wort – und habe viele Geschichten gesammelt. Schöne, traurige, aber auch lustige Begebenheiten.
Dass wir einander im nepalesisch-tibetischen Grenzland trafen, empfindet Chime heute als ,Karma‘. Als vom Schicksal geführt.
Ich selbst war in diesem März 2000 auf der Suche nach Flüchtlingskindern für eine Fernsehdokumentation im Himalaya unterwegs. Und ich habe schließlich viel mehr als ,nur‘ Protagonisten an der Grenze zu Tibet gefunden: Sechs tibetische Kinder, die mir neben meinem leiblichen Sohn heute so nah sind, als wären es meine eigenen Kinder.
Von unserer deutsch-tibetischen Großfamilie über zwei Kontinente hinweg wollen wir nun den Menschen erzählen. Um ihnen Mut zu machen: Selbst wenn du alles verlierst im Leben, verzweifle nicht! Das Universum dir alles wieder zurückgeben. Nur vielleicht in einer anderen Form.
,Die erste Zeit im Exil war sehr schwer. Im tibetischen Kinderdorf von Dharamsala hatte man uns sechs Kinder auf drei Häuser aufgeteilt. Und mit unserer Hausmutter verstand ich mich gar nicht.
Eines Tages hielt es nicht mehr aus. Mit meinen zehn Jahren hasste ich bereits die ganze Welt! Am meisten jedoch hasste ich meine Mutter. Sie hatte Dolkar und mich belogen. Sie hatte uns ein Paradies versprochen und in Wahrheit in die Hölle geschickt. Warum sollte ich hier noch länger bleiben? Ich rannte einfach davon. Ein älteres Mädchen aus unserem Haus hatte meine Flucht bemerkt und rannte mir hinterher. Sie packte mich und sah mir ganz fest in die Augen: »Pass auf, Chime. Jedem, der aus Tibet kommt, geht es so wie dir. Aber du bist nicht zum Spaß hierher geschickt worden. Verstehst du? Du bist hier, um irgendwann als gebildete Tibeterin aufzustehen und in dieser Welt zu scheinen! Schau auf die guten Dinge in deinem Leben. Du hast deine Schwester und noch vier weitere Geschwister hier. Du bist wenigstens nicht allein!‘ … (Chime, im März 2011)
Schließlich gelang es mir, die sechs Kinder in einem Kinderhaus unter zu bringen. Und Chime kam nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich im Exil an.
Vier Jahre später schaffte sie den Sprung auf eine Eliteschule, in der die 200 besten Schüler aller tibetischer Kinderdörfer eine ganz besondere Ausbildung erhielten. Sie hatte große Pläne für ihre Zukunft. Sie wollte Astronomie studieren, Schauspielerin werden. Als sie hörte, dass theoretisch auch Männer Babys austragen können, beschloss sie, in die Embryonenforschung zu gehen. Sie wurde von ihren Mitschülern zur ,Königin der Bühne‘ gewählt! Chime war auf der Schaumkrone des Lebens – wäre da nur nicht das Heimweh gewesen. Denn was waren all die großartigen Leistungen wert, wenn die eigene Mutter sie nicht sehen und bewundern konnte?
,Jedes Jahr zu Losar versprach unsere Mutter aus Tibet zu kommen, und uns zu besuchen. Und jedes Jahr wurden Dolkar und ich in unserer Hoffnung, sie wieder zu sehen, bitter enttäuscht.
Lag es daran, dass sie keine Papiere zur Ausreise bekam? Oder scheute sie den weiten Fluchtweg über die Berge? Oder hatte sie Dolkar und mich vergessen und uns einfach aus ihrem Herzen gestrichen? Warum hielt unsere Mutter das Versprechen, das sie uns zum
Abschied gegeben hatte? Uns im Exil zu besuchen? Warum haben wir sie bis heute nicht wieder gesehen?‘ … (Chime, im März 2011)
Ich kenne all diese Warum-Fragen aus meiner eigenen Kindheit. Ich war erst zweieinhalb Jahre alt, als meine Mutter meinen Vater und mich verließ. Sie ist nie wieder zu uns zurück gekommen. Ich habe sie seither nie mehr wieder gesehen. Und so wurde ich bei Chimes innere Auseinandersetzung mit ihrer Mutter in Tibet auch mit meinem eigenen Kindheit konfrontiert. Bis ich begriff, dass ich genau aus diesem Grunde diesen sechs Kindern begegnet bin. In Eis und Schnee auf 5300 Metern Höhe. Der frühe Verlust unserer Mütter schweißte uns über die Jahre zu einer Seelenfamilie zusammen.
Als unser Heimweh immer unerträglicher wurde, reisten wir im Sommer 2005 alle gemeinsam nach Ladakh, in das Land der Himalayapässe. Maria hatte uns eine ,Zeitreise zurück ins alte Tibet‘ versprochen. Und sie machte mit ihrer Drohung auch wahr. Denn hier sah es tatsächlich genauso aus wie in Tibet. In uralten buddhistischen Klöstern beteten wir für unsere Eltern in Tibet. Wir tranken Buttertee in den Zelten der Grenznomaden, die vor vielen Jahren mit ihren Yaks aus Tibet geflohen waren. Im grauen Wasser des Indus lernten wir schwimmen. Und schliefen nachts unter den Sternen, die hier den Menschen genau so nahe sind, wie in unserer alten Heimat Tibet. Am Ende unserer Reise besuchten wir das berühmte Orakel Ayu Lhamo.
,Wird unsere Mutter uns jemals besuchen?‘ fragte ich Ayu Lhamo, nachdem sie in Trance gefallen war und die Götter Besitz von ihrem dünnen Körper ergriffen.
,Ihr werdet Eure Mutter wieder sehen, war ihre Antwort: ,Doch bis dahin sind noch viele Hindernisse zu überwinden …‘ (Chime, im März 2011)
2007 gelang es Dhondups Mutter aus Tibet zu kommen, um ihren Sohn sieben Jahre nach seiner Flucht wieder zu sehen. Sie kündigte uns auch den Besuch von Chimes und Dolkars Mutter an. Da die Mädchen es kaum erwarten konnten, ihre Mutter endlich wieder zu sehen, reisten wir ihr nach Nepal entgegen, um in Kathmandu auf ihre Ankunft zu warten. Doch wir warteten leider vergebens. Die Mutter kam nicht. Obwohl sie es ihren Töchtern am Telefon versprochen hatte.
,Da beschloss ich, einen Schlussstrich unter mein ewiges Warten und Hoffen zu ziehen. Ich rief meine Mutter in Lhasa an und sagte ihr, dass ich ein für alle mal meine Hoffnung auf ihren Besuch begrabe. Sie weinte bitterlich. Aber ich wollte sie und mich nicht mehr mit vagen Hoffnungen trösten. Dies war mein zweiter Abschied von unserer Mutter.
Danach ging es mir besser. Und ich machte auch große Fortschritte in meiner Schule. Alles ging gut, bis zu jenem Tag, als ,das‘ mit Dolkar geschah …‘ (Chime im März 20211)
In jeder Familie geschehen Dinge, die wunderbar sind und Dinge, die unser Leben mit einem Schlag aus den Angeln heben. In unserer deutsch-tibetischen Familie ist das nicht anders. Doch bis heute haben wir jedes Problem mit gemeinsamer Kraft gemeistert. Und jedes Unheil rückte uns letztlich noch näher zusammen.
,Kein Pfad führt zurück‘ erzählt unsere ungewöhnliche Familiengeschichte.
In unserer multimedialen Lesung (Termine 2011/2012) blicken Sie mit uns in unser reich bebildertes Familienalbum. Unsere elfjährige Reise führt Sie mehrfach in eisige Höhen und in atemberaubende Landschaften. Sie gibt eine authentische Innenschau in eine Kindheit und Jugend im Exil in einem tibetischen Kinderdorf. Sie erzählt von Freundschaft und Liebe. Und von der Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben in Freiheit.
,Zur Zeit gehen in Tibet junge Mönche auf die Straße, übergießen sich Benzin und zünden sich an.
Zwei Mönche sind in diesem Jahr schon an ihrer Selbstverbrennung gestorben. Drei haben diesen unglaublichen Akt der Selbstopferung schwer verletzt überlebt. Es zeigt, wie verzweifelt die Menschen sind in meiner Heimat.
Ich selber wäre nicht mutig genug, mein Leben für Tibet zu geben. Ich gebe hier nur meine Geschichte. Aber sie ist ganz aus meinem Herzen erzählt. Für meine Familie, die ich in Tibet zurücklassen musste. Für meine Familie, die ich im Exil fand. Und für all jene, die teilhaben wollen an unserem Leben.‘ (Chime, im März 2011)

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